Jürgen Grahl

Die ökologischen Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems

Fehlerhafte Ansätze der Wirtschaftstheorien als Ursache verfehlter Wirtschaftspolitik

(27.11.2002, aktualisiert 4.3.2006)

Der Erfolg der Umweltbewegung wird letztlich wohl entscheidend davon abhängen, ob es ihr gelingt, Politik und Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Ökologie und Ökonomie keine Gegensätze bilden, dass der angebliche Zielkonflikt zwischen Wohlstand und Umweltschutz vielmehr das Resultat einer kurzsichtigen und einseitigen Betrachtungsweise ist. Daher ist es unerlässlich, sich mit den Aporien der heute dominierenden Wirtschaftstheorien zu beschäftigen, mit jenen Unehrlichkeiten und Irrationalitäten, die es möglich machen, Umweltzerstörung als wirtschaftlich sinnvoll zu verbrämen. Der vorliegende Artikel versucht, die wichtigsten Argumente in Kürze zusammenzustellen

1. Missachtung des Naturkapitals

Noch immer gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) (früher das Bruttosozialprodukt, BSP) als hauptsächlicher Indikator des Wohlstands einer Volkswirtschaft. Dessen Aussagekraft ist jedoch höchst fragwürdig: So tragen Verkehrsunfälle ebenso wie Umweltzerstörungen zur Steigerung des BIP bei. Ein Land, das seine Regenwälder abholzt, erhöht dadurch sein BIP, ohne dass der Verlust an Wald in irgendeiner Wirtschaftsbilanz auftauchen würde. Das Naturkapital wird (soweit es kostenfrei zur Verfügung steht) im BIP schlicht ignoriert. Die Folge ist, dass unser Wirtschaftssystem permanent vom Kapital, von der Substanz zehrt, statt sich mit den "Zinsen" der Natur zu begnügen; unser Wirtschaften ist oft ein bloßes Umschichten von monetär unbewerteten zu monetär bewerteten Gütern.

Kurzfristig führt solcher Raubbau zu höheren, aber einmaligen Einnahmen, langfristig jedoch zu entgangenen Erträgen. Besonders drastisch zeigt sich dies im verschwenderischen Umgang mit den fossilen Ressourcen, trotz aller Mahnungen vor dem baldigen Ende von Öl und Gas. Selbst die elementaren, schon in den Schulen verwendeten Modelle des Wirtschaftskreislaufes kranken daran, dass sie die Natur, die Quellen und Senken der Stoffströme in unserer Wirtschaft praktisch nicht berücksichtigen. Die Güter werden auf magische Weise quasi aus dem Nichts geschaffen und die Entsorgung der nicht mehr nutzbaren Reste wird - losgelöst von der Frage der technischen Durchführbarkeit - allenfalls als eine Aufgabe betrachtet, die zukünftigen Generationen überlassen bleibt und möglicherweise ihr BIP weiter steigert; Al Gore bezeichnet dies spöttisch als „moderne Alchimie“.

Wir müssten also das Bruttosozialprodukt durch ein Ökosozialprodukt ersetzen, in welchem die volkswirtschaftliche Wertschöpfung und die damit einhergehenden Verluste an Naturkapital gegeneinander aufgerechnet werden; dieses könnte dann zwar angesichts seiner ungleich höheren Komplexität nicht mehr so exakt und objektiv bestimmt werden wie das heutige BIP bzw. BSP, würde aber - und das ist erheblich wichtiger als scheinbare Genauigkeit - jedenfalls der Realität wesentlich näher kommen.

2. Die Ausblendung der externen Kosten

Ein weiteres schwerwiegendes Manko unseres Wirtschaftens besteht darin, dass wir all die volkswirtschaftlichen Schäden, die wir durch unsere umweltzerstörerische Wirtschaftsweise anrichten, aus unseren ökonomischen Betrachtungen verbannen, indem wir sie in den Papierkorb der „externen Kosten“ werfen.

Obwohl der Begriff der externen Kosten fast in aller Munde ist, werden keine ernsthaften Konsequenzen gezogen. Unsere heutige Ökonomie ignoriert immer noch weitgehend die Tatsache, dass eine Diskrepanz zwischen dem privaten und dem sozialen Nutzen einer wirtschaftlichen Handlung bestehen kann, so dass ihre Folgeschäden die Allgemeinheit (und/oder künftige Generationen) und nicht speziell den Verursacher (und Nutznießer!) belasten. Beispiele für externe Kosten sind vor allem:

All diese externen (oder „sozialisierten“) Kosten bedeuten eine schleichende Enteignung der Allgemeinheit und eine zunehmende Einschränkung der finanziellen Spielräume des Staates. Hier liegt ein wesentlicher Grund für die Erosion der Staatsfinanzen. (Ein weiterer Grund ist der Zwang zu kreditfinanzierter Konjunkturankurbelung durch den Staat aufgrund der weiter unten noch genauer zu besprechenden Wachstumsabhängigkeit.)

Kennzeichnend für die Entwicklung gerade der letzten Jahre sind dabei zwei widersprüchliche Tendenzen: Einerseits werden dem Staat zunehmend lukrative Aufgaben durch Privatisierungen (z.B. Telekom, Post, Lufthansa) entzogen; anderseits werden jedoch immer mehr externe Kosten auf den Staat abgewälzt. Im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik müsste ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben hergestellt werden; dies würde eine Privatisierung nicht nur der lukrativen Aufgaben, sondern auch der Kosten und Risiken erfordern, doch die wird von den neoliberalen Vordenkern kategorisch abgelehnt. Durch diese Inkonsequenz entlarvt sich das den Zeitgeist dominierende neoliberale Denken als interessengeleiteter Versuch, den Staat und damit die Mehrheit seiner Bürger zugunsten der "Privatwirtschaft" - genauer gesagt zugunsten ihrer Kapitalgeber - gnadenlos auszuplündern.

Die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips auf die ökologischen Folgeschäden des Wirtschaftens gebietet die Internalisierung der externen Kosten. Dies ist die vermutlich bekannteste Begründung für die Notwendigkeit einer ökologischen Steuerreform. Leider ist jedoch eine auch nur annähernde Bestimmung der externen Kosten, wie sie für eine Internalisierung wesentlich wäre, mit großen methodischen Problemen verbunden:

Zum einen besteht eine prinzipielle Schwierigkeit darin, den Wert immaterieller Güter bzw. Belastungen monetär zu quantifizieren: Wie teuer sind uns Leben, Gesundheit, Frieden, Glück, Schönheit, Lebensqualität, wie teuer andererseits Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, „Restrisiko“? Dass diese Werte in der Rechnung kurzerhand vernachlässigt werden, und nicht einmal der Versuch unternommen wird, sie in die Gesamtwertung einzubeziehen, wirkt wie Zynismus im Sinne von Oscar Wilde:

[zitat: "Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert." ]

Zum anderen kann man zu stark variierenden Ergebnissen für die externen Kosten kommen, je nachdem welche Annahmen über die Wahrscheinlichkeit gewisser zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse (z.B. Klimaveränderungen oder Kernschmelzunfälle) man zugrunde legt; insbesondere sind die zukünftigen Kosten des anthropogenen Treibhauseffekts geradezu unkalkulierbar.

So ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Versuche, die externen Kosten der Energienutzung abzuschätzen, zu stark differierenden Ergebnissen geführt haben. Hohmeyer (1994) gibt z. B. folgende Werte an

Natürlich gibt es auch Studien, die wesentlich niedrigere Werte nennen, welche geradezu einer Ignorierung der externen Kosten gleichkommen. Ob es nur Zufall ist, dass sie zumeist von der Energiewirtschaft nahestehenden Wissenschaftlern stammen...?

3. Die Schieflage zwischen den Produktionsfaktoren Energie und Arbeit

Das vielleicht schwerste Versäumnis der heutigen Ökonomie ist die Nicht-Wahrnehmung - oder sollte man sagen: die Ausblendung - des Produktionsfaktors Energie und seiner Bedeutung in der Produktion: Bis heute gehen die Wirtschaftswissenschaften meist nur von Kapital, Arbeit und Boden als maßgeblichen Produktionsfaktoren aus.

Dieses theoretische Versäumnis führt in seiner praktischen Folge dazu, dass Energie trotz ihres überragenden Stellenwertes nur völlig unzureichend besteuert wird, während der - über Jahrhunderte hinweg anerkannte - Produktionsfaktor Arbeit völlig über Gebühr mit Steuern belastet wird. So ist eine ausgeprägte Schieflage zwischen den Produktionsfaktoren Energie und Arbeit entstanden; kurz zusammengefasst: Energie ist billig und produktionsmächtig, Arbeit hingegen teuer und relativ produktionsschwach. Welches Ausmaß das Problem hat, das illustriert der folgende Vergleich zwischen den Produktionselastizitäten (Produktionsmächtigkeiten) von Energie und Arbeit einerseits und ihren Anteilen an den Faktorkosten andererseits. (Eine ausführliche Darstellung findet sich in dem Aufsatz "Produktionsfaktor Energie - Der stille Riese".)

Zeitliche Mittelwerte der Produktionselastizitäten der Faktoren Energie und Arbeit in der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1960 bis 2000, verglichen mit den Anteilen an der Summe der Faktorkosten:

Energie Arbeit
Produktionselastizität 41% 12%
Anteil an den Gesamtkosten 5% 65%

Quelle: Jörg Schmid, Dietmar Lindenberger, Reiner Kümmel, Institut für Theoretische Physik der Universität Würzburg, 2003

Dieses enorme Gefälle determiniert den gegenwärtigen Haupt-Entwicklungspfad unserer Wirtschaft: Das kostenminimierende Wirken der "unsichtbaren Hand" des Marktes äußert sich zwangsläufig als unablässige Substitution von teurer menschlicher Arbeit durch billige "Energiesklaven". Mit solchen Rahmenbedingungen treibt der Staat die Unternehmen zur weiteren "Freisetzung" von Personal - eine Verhaltensweise, die er gerade vermeiden möchte.

Stoppen lässt sich diese Reise in einen Endzustand maximaler Automation durch die Beseitigung des Ungleichgewichts zwischen Energie und Arbeit, d.h. dadurch, dass Energie wesentlich teurer und Arbeit wesentlich billiger wird - und zwar so lange, bis Faktorkostenanteile und Produktionselastizitäten wenigstens annähernd wieder im Gleichgewicht sind. Als hervorragendes Instrument hierfür bietet sich das Steuersystem an, die allmähliche, aber konsequente Verschiebung der Hauptsteuerlast von der Arbeit hin zur Energie.

Damit liefert dieser Ansatz eine völlig neue, bisher leider kaum bekannte Begründung für Energiesteuern, und zwar eine Begründung, die gegenüber der "herkömmlichen" Argumentation über die Internalisierung der externen Kosten zwei entscheidende Vorteile aufweist:

1. Ihr Akzent liegt auf den ökonomischen Chancen der Energiebesteuerung, nicht auf der ökologischen Notwendigkeit; damit ist sie geeignet, auch diejenigen hellhörig zu machen, bei denen Umweltschutzargumente allein zunehmend auf taube Ohren stoßen.

2. Eine monetäre Quantifizierung der externen Kosten der Energienutzung mit all den obengenannten Schwierigkeiten erübrigt sich, da die Energiepreiserhöhung, die zur Nivellierung der Diskrepanz zwischen Faktorkosten und Produktionselastizitäten erforderlich ist, auch die externen Kosten mit abdeckt.

Dass diese Begründung für Energiesteuern so wenig bekannt ist, mag auch daran liegen, dass die Wirtschaftstheorie eine solche Begründung erst liefern kann, wenn sie die Energie als selbständigen Produktionsfaktor anerkennt und sich seiner wahren Produktionsmächtigkeit bewusst wird.

4. Die Wachstumsabhängigkeit

Fast wie unter einem kollektiven Zwang wird Wirtschaftswachstum von den allermeisten ökonomen und den von ihnen beratenen Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft noch immer als Garant, ja beinahe als Synonym für mehr Wohlstand und Beschäftigung angesehen - und dies mehr als 30 Jahre nach dem Club-of-Rome-Bericht "Die Grenzen des Wachstums"; während immerhin die Problematik der Bevölkerungsexplosion ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist, ist die Sensibilität für die Fragwürdigkeit fortwährenden Wirtschaftswachstums nach wie vor erschreckend unterentwickelt.

Erwartet wird hierbei eine stete Zunahme der Wirtschaftsleistung um einige Prozent Jahr für Jahr. Man bezeichnet ein solches Wachstum als "exponentielles Wachstum". Die Dynamik und Dramatik exponentiellen Wachstums wird von Nichtmathematikern leider oft völlig unterschätzt. So bedeutet selbst eine - heute als moderat bzw. ungenügend geltende - jährliche Wachstumsrate von lediglich 2% eine Verdoppelung innerhalb von 35 Jahren - das mag noch als halbwegs akzeptabel erscheinen-, nach 105 Jahren freilich schon eine Verachtfachung und nach 350 Jahren schließlich ein Anwachsen auf das Tausendfache des Ausgangsniveaus. Es ist daher eine unbestreitbare Tatsache, dass exponentielles Wachstum früher oder später zum Zusammenbruch führen muss - ob früher oder später, hängt im Wesentlichen von der Wachstumsrate ab (Ausführlicher ist die Wachstumsproblematik in dem Artikel "Wachstumsfetischismus" diskutiert).

Daher ist es dringend erforderlich, die Mechanismen aufzudecken, die unsere Wirtschaft zu permanentem Wachstum verdammen, die dazu führen, dass ein bloßes Absinken der Wachstumsrate auf z. B. 1 % - von einem Verharren auf konstantem Niveau ganz zu schweigen - bereits als Rezession bzw. Wirtschaftskrise empfunden wird.

Einer der Hauptmechanismen hängt aufs Engste mit der oben besprochenen Schieflage zwischen Energie und Arbeit und der daraus folgenden fortlaufenden "Freisetzung" von Arbeitskräften zusammen. Damit diese an anderer Stelle unterkommen können und nicht das Heer der Arbeitslosen vergrößern, ist es notwendig, dass die Volkswirtschaft insgesamt ständig expandiert.

Umgekehrt bedeutet dies: Die Beseitigung der Schieflage durch eine Umschichtung der Steuerlast von der Arbeit auf die Energie würde diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck und Wachstumsabhängigkeit entschärfen und unserer Zivilisation die Freiheit zurückgeben, ihre eigene Zukunft zu gestalten, statt sich nur noch von - in der heutigen Situation oft durchaus realen! - Sachzwängen regieren zu lassen.

Manche Politiker und Wirtschaftswissenschaftler versuchen sich dem Dilemma dadurch zu entziehen, dass sie argumentieren, Wirtschaftswachstum müsse nicht automatisch auch materielles Wachstum bedeuten, dass sie z.B. die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch durch eine Steigerung der Energieeffizienz propagieren. Aber auch hier gilt: Ein unbegrenztes Wachstum der Energieeffizienz ist nicht möglich; der Substituierbarkeit von Energie durch Kapital sind Grenzen gesetzt. Ein Festhalten am exponentiellen Wachstum des BIP würde jedoch, da kein unbeschränktes materielles Wachstum möglich ist, ein unbeschränktes Wachstum der Energieeffizienz erfordern. Damit ist das angesprochene Konzept einer Entkopplung von Wirtschafts- und materiellem Wachstum zumindest langfristig, jenseits eines Zeithorizonts von vielleicht 30 oder 40 Jahren keine Lösung - was nicht heißen soll, dass es in den nächsten Jahrzehnten nicht von großem Wert sein kann, um die Problematik zu entschärfen und Zeit für eine endgültige Lösung zu gewinnen.

Oftmals ist zu hören, Wachstum werde durch die Unersättlichkeit der menschlichen Bedürfnisse induziert. In der Tat könnte man die heutige Wachstumsfixierung zumindest in den reichen Industrienationen auch damit erklären, dass materielles Wachstum oft als eine Art Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Sehnsüchte dient. Unsere Zivilisation durchleidet eine schwere Sinnkrise und flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben, vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen Lebens in einen unkontrollierten Konsumrausch: Konsum von materiellen Gütern und Konsum von Natur. Diese Erklärung vermag freilich nur die Popularität des Wachstumsparadigmas zu begründen, nicht jedoch die derzeit bestehende Abhängigkeit vom Wachstum. Gegen die These von der Unersättlichkeit der Bedürfnisse als Triebfeder des Wachstums spricht übrigens die förmliche Explosion des Werbemarktes in den letzten Jahrzehnten: Deutet diese nicht darauf hin, dass die natürlichen Sättigungsgrenzen der materiellen Bedürfnisse allmählich näherrücken und nur durch den massiven Einsatz psychologisch höchst raffinierter Manipulationstechniken noch ein wenig hinausgeschoben werden können?

Diese Betrachtungen machen deutlich, welch überragende Rolle bei der Beseitigung der besprochenen ökologischen Strukturfehler der Umschichtung der Steuer- und Abgabenlast von der Arbeit auf die Energie zukommen wird. Sie ist eine zwar sicherlich nicht hinreichende, aber doch unbedingt notwendige Bedingung für die Überwindung des Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie (oder genauer: für die Erkenntnis seiner Nichtexistenz) und damit für die Lösung der großen globalen Probleme sowohl der ökologischen als auch der sozialen Frage.


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