Gerhard Hübener

Finanzierung mit Lenkung verbinden

Vier Bausteine für eine nachhaltige Gesundheitsreform

Januar 2008: Der Artikel ist zwar schon zwei Jahre alt, die Diskussion ist aber seitdem nicht wirklich weiter gekommen. Die erhoffte Senkung der Beiträge kann schon jetzt als gescheitert angesehen werden. Notwendig ist ein grundlegend anderer Ansatz: die Verbindung von Finanzierungs- und Lenkungsfunktion. Die Gesundheitsreform wäre damit ein Paradebeispiel für die Reform der Sozialsysteme.

"Ich will, dass der Bevölkerung klipp und klar gesagt wird, dass ihr Gesundheitssystem … auf Dauer unbezahlbar ist. Die Bevölkerung muss ihr Verhalten ändern. Jeder Zweite macht sich durch seine Lebensführung selbst krank." – "Im Gesundheitswesen wird in absehbarer Zeit jeder seine Grundversorgung selbst zu tragen haben. Nur aufwändigere Medizin wird kollektiv finanziert."

Meinhard Miegel, Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Bonn [1]

Wir sollten die Worte von Meinhard Miegel ernst nehmen. Die Frage ist nicht mehr, ob wir radikale Veränderungen bekommen werden. Die Frage ist nur noch, in welche Richtung dies gehen wird. Bisher konzentriert sich die Reformdebatte auf die Suche nach einer breiteren Finanzierungsbasis (Bürgerversicherung von SPD, Bürgerprämie des DIW) und auf die Möglichkeit einer Abkopplung der steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskosten (Kopfpauschale der CDU, Bürgerprämie). Die Möglichkeit einer Senkung der Gesundheitskosten über die Motivierung von Verhaltensänderungen (worauf ja Meinhard Miegel in dem Zitat hinweist), wird völlig ignoriert. Es ist aber kaum anzunehmen, dass die bisherigen Bonus-Programme der Krankenkassen dies leisten können. Im Folgenden sollen die in der Öffentlichkeit diskutierten Konzepte der Parteien und Gesundheitsexperten einer kritischen Betrachtung unterzogen werden, wobei ich mich vor allem auf die Frage der Lenkungswirkung konzentriere. Anschließend werden Ansätze für eine weitaus tiefer greifende Reform vorgestellt.

Kopfpauschale, Bürgerversicherung und Bürgerprämie

1. Kopfpauschale (Gesundheitsprämie der CDU)

Der Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung wird an die Arbeitnehmer ausgezahlt, der dann die Kopfpauschale in Höhe der durchschnittlichen Gesundheitskosten zahlt. Der Ausgleich für Niedrigverdiener und die Kinderversicherung soll aus Steuermitteln finanziert werden. Der eigentliche Vorteil dieses Vorschlages soll nach Ansicht der Befürworter in der Reduzierung der Arbeitskosten bestehen. Weil zukünftige Kostensteigerungen im Gesundheitssystem dann allein vom Arbeitnehmer zu zahlen wären. Was aber nur realistisch ist, wenn die Gewerkschaften sich dann nicht mit entsprechend höheren Lohnforderungen durchsetzen können (wovon die Arbeitgeber heute allerdings auszugehen scheinen). Der Grundfehler dieses Konzeptes ist die Tatsache, dass mit der Übertragung der Arbeitgeberbeiträge an die Arbeitnehmer eine dauerhafte Erhöhung der Bruttoeinkommen verbunden wäre. Die Alternative einer zukünftigen Steuerfinanzierung des Systems, mit der Möglichkeit einer weitaus stärkeren Absenkung der Arbeitskosten, wäre damit verbaut. (Zumindest dürfte es sehr viel schwieriger sein, sich mit den Gewerkschaften über eine spätere Absenkung der Bruttoeinkommen zu einigen)

2. Bürgerversicherung (SPD und Grüne)

Natürlich ist dieses Konzept durch die Verbreiterung der Bemessungsbasis (Einbeziehung aller Bürger in das System, einschließlich der Berücksichtigung anderer Einkommensarten) ein Fortschritt gegenüber dem jetzigen Modell. Nur ändert es wenig an den eigentlichen Ursachen steigender Gesundheitskosten. Weder an den wachsenden gesundheitlichen Folgeschäden (fehlende Lenkungswirkung) noch an den hohen Arbeitskosten. (die geschätzte Senkung der Beiträge von max. 2 Prozent wird in wenigen Jahren wieder "aufgefressen" sein) Das Positivste an der Reform ist die Tatsache, dass sie keine falschen Weichen stellt. Im Gegensatz zur Kopfpauschale. Mangels echten Alternativen sprachen sich aber sogar prominente Vertreter aus dem grünen Milieu für die Kopfpauschale aus. Thilo Bode, Ex-Greenpeace-Chef und jetziger Geschäftsführer von Foodwatch e.V., hält die Kopfpauschale aus ökologischen Gründen für den besseren Weg. Weil sie die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abkoppeln würde und damit die jetzige Abhängigkeit der Kosten unserer Sozialsysteme vom wirtschaftlichen Wachstum verringern würde [2]. Dem schloss sich sogar Ex-Gesundheitsministerin Andrea Fischer an, die außerdem kritisiert: "Die Krankenkassen können nicht als eine Art Zweitfinanzamt alle Einkommen überprüfen." [3]

3. Bürgerprämie (Vorschlag des DIW)

Aus der Bürgerversicherung wird der Ansatz übernommen, sämtliche Bürger in dieses System einzubeziehen. Wie bei der Kopfprämie wird von den Versicherten ein Festbetrag gezahlt. Der soziale Ausgleich einschließlich der Kinderbeiträge würde aus Steuermitteln erfolgen. Neu ist, dass die Unternehmen über eine Wertschöpfungsabgabe an der Finanzierung beteiligt werden sollen. [4] Das heißt: statt der ausschließlichen Belastung des Faktors Arbeit werden auch die in der Wertschöpfung steckenden Faktoren Kapital und Energie zur Finanzierung herangezogen. Allerdings nur im Verhältnis ihrer Kostenanteile (Arbeit hoch, Energie niedrig). In welchem Umfang die Arbeitgeberbeiträge durch eine solche Abgabe ersetzt werden sollen, scheint noch nicht klar zu sein. Nur wäre auch dieses Konzept keine dauerhafte Lösung. Die Gründe: 1. Der Anreiz zur Vermeidung von gesundheitlichen Folgeschäden fehlt. Damit sind neue Kostensteigerungen und weitere Beitragserhöhungen vorprogrammiert. 2. Die Entlastung des Faktors Arbeit ist zu gering. Die Personalkosten stellen jedoch den größten Anteil an den Kosten des Gesundheitssystems. Dazu kommt, dass mit steigender Arbeitslosigkeit (oder sinkenden Einkommen) der Finanzbedarf für den sozialen Ausgleich immer weiter ansteigt.

4. Niederländisches Modell

In den Niederlanden wurde mit Jahresbeginn eine Gesundheitsreform in Kraft gesetzt, die von unseren Gesundheitspolitikern eifrig diskutiert wird. Insofern lohnt es sich, dieses Modell etwas näher anzuschauen. Die Holländer haben ein Mischmodell, bestehend aus einer Kopfprämie (im Schnitt 92 Euro monatlich) und einkommensabhängigen Beiträgen von 6,25 Prozent. Für sozial Schwache wie für die Kindermitfinanzierung gibt es eine Steuerfinanzierung. Alle Kassen sind privatisiert, die Höhe der Prämien ist deren Sache. Wichtig sind aber die beschlossenen Rahmenbedingungen: die Kassen müssen jeden Patienten nehmen, die Prämien dürfen sich nicht am Kostenrisiko orientieren, es gibt einen umfassenden Risikoausgleich zwischen den Kassen (wie bei den gesetzlichen KV in Deutschland) [19], [20]

Kritische Anmerkungen zum niederländischen Modell:

1. Es gibt keinen Kostenanteil, der durch den Arbeitgeber gezahlt wird. Das heißt, die jetzigen Arbeitgeberanteile müssten wie bei der Kopfprämie an den Arbeitnehmer ausgezahlt werden. Siehe Anmerkungen Punkt 1.

2. Das Leistungsspektrum der Kassen ist im Vergleich zu Deutschland "sehr knapp bemessen". [20] (Obwohl die Kostenbeiträge annähernd den Beiträgen in Deutschland entsprechen). Die private Zusatzversicherung wird damit wohl zur Regel werden.

3. Es wird schon jetzt kritisiert, dass der Staat über kurz oder lang die steigenden Kosten nicht mehr ausgleichen kann und den Kassen mehr Vertragsspielraum gestattet. Das hieße dann wohl: Beiträge nach "Kostenrisiko", höhere Beiträge für Alte und Kranke. Gerade hat der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, gefordert, dass sich die Kassenbeiträge in Zukunft wie Versicherungsbeiträge am Krankheitsrisiko orientieren müssen. Alte und Kranke müssten mehr zahlen als Junge und Gesunde, sonst seien die Folgen der demografischen Entwicklung nicht zu finanzieren [15]. Unsere Gesundheitspolitiker haben diesen Vorschlag abgelehnt. Noch…

5. Das Problem der Steuerfinanzierung

Während die meisten europäischen Länder, insbesondere die skandinavischen Länder, auf eine Steuerfinanzierung ihrer Sozialsysteme gesetzt haben, verbunden mit einer deutlichen Entlastung der Arbeitskosten, bleibt Deutschland bei dem bewährten System der Beitragsfinanzierung. Begründung siehe oben: die steigenden Kosten können nicht durch steigende Steuern abgedeckt werden. Vergessen wird dabei, dass steigende Versicherungsbeiträge noch schlechter sind, weil sie ausschließlich den Faktor Arbeit belasten. Aber inzwischen mehren sich die Stimmen, auch aus der Koalition, die eine stärkere Steuerfinanzierung fordern. Damit wäre dann alles gelöst. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach meint, dass die diskutierte Auslagerung der Kindermitversicherung "im Wesentlichen genügt, um unser Gesundheitssystem zu sanieren." [5] Und der Fraktionsvize der CDU, Wolfgang Zöller, stellt fest: Wirtschaftlichkeitsreserven sind kaum noch vorhanden. "Deshalb muss jetzt mehr Geld ins System." [5] . Schon jetzt betragen die Kosten des Gesundheitssystems jährlich 224 Mrd. Euro (Stand 2002) [6] . Einig sind sich die Experten darin, dass die Gesundheitskosten weiter steigen werden, andererseits die Lohnnebenkosten deutlich gesenkt werden müssen. Langfristige Vorschläge reichen von: Nur die Grundversorgung wird von der Gesellschaft finanziert, für den Rest muss jeder selbst sorgen, bis: die Grundversorgung soll jeder selbst tragen, nur aufwändigere Medizin wird kollektiv finanziert.

Alternativ-Modell: Verbindung von Finanzierungs- und Lenkungswirkung

Nachfolgend ein Konzept für eine effektive und gleichzeitig solidarische Reform, die eine wirklich nachhaltige Finanzierung sicherstellen sollte. Es besteht aus vier Bausteinen, die auch einzeln umgesetzt werden können. Der gemeinsame Nenner aller dieser Elemente besteht darin, dass die aktuelle Frage der Finanzierung mit der Frage nach einer sinnvollen Lenkung verbunden wird.

Baustein 1: Mit Gesundheitsabgaben Lohnnebenkosten senken

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt fest, dass rund ein Drittel aller Kosten im Gesundheitswesen durch Krankheiten verursacht werden, die auf Fehlernährung zurückgeführt werden können [8]. Und die WHO befürchtet, dass zukünftig Diabetes als Todesursache AIDS weit hinter sich lassen könnte [17].

Die bisherigen Vorschläge zur Motivation von gesundheitsbewusstem Verhalten – Patientengebühr, Bonusmodelle, Selbstbehalt - setzen nicht an der eigentlichen Wurzel des Übels an. Es gehört zum Grund(miss-)verständnis der deutschen Gesundheitsversorgung, dass Folgekosten von gesundheitsschädigendem Verhalten bisher von allen Versicherten getragen werden. Fehlverhalten wird damit subventioniert, de facto gefördert. Mangels Alternativen wird dieses Modell auch noch als solidarisch verteidigt. Die gängige Meinung ist: man könne positives Verhalten durch kleine Geschenke belohnen (Bonus-Modelle), aber schwerlich gesundheitsschädigendes Verhalten bestrafen. Sonst müsste man die Krankenkassen zur Gesundheitspolizei ausbauen.

Stattdessen werden Allianzen für gesunde Ernährung geschmiedet, werden Millionen für Gesundheitskampagnen ausgegeben (ein Bruchteil der Werbeausgaben für Fastfood und Zigaretten) – wieder vom Steuerzahler finanziert. Erstaunlich, dass den sonst so marktgläubigen Experten eine Studie ignorieren, die das Problem auf ganz einfache und effektive Weise zu lösen vorschlägt.

Das Umwelt- und Prognoseinstitut Heidelberg hat in einer bereits 1998 erstellten Studie die Folgekosten ausgewählter risikoreicher Verhaltensweisen (Rauchen, Alkohol, Zucker, Fleisch/tierische Fette, Straßenverkehr) untersucht. In dem Bericht wurden die volkswirtschaftlichen Kosten von Gesundheitsschäden ermittelt und Lösungen zur verursachergerechteren Anlastung vorgeschlagen [7].

Abb. 1: Bei Einführung von Gesundheitsabgaben könnten die Beitragssätze zur Krankenversicherung um 40 Prozent gesenkt werden. Zu diesem Ergebnis kommt die UPI-Studie Nr. 46: "Kostenumschichtung im Gesundheitswesen durch Anwendung des Verursacherprinzips – Vorschläge für eine Finanzreform im Gesundheitswesen durch Gesundheitsabgaben"

Beispiel Nikotinmissbrauch: Der Studie nach verursachen gesundheitliche Folgeschäden wie Krebs, chronische Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Störungen etc. jährliche volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von 35 Mrd. Euro. Eine Gesundheitsabgabe auf Zigaretten hätte eine Doppelfunktion. Ansteigend über 10 Jahre auf dann 25 Cent pro Zigarette würden im 10.Jahr Einnahmen von 16 Mrd. Euro erbracht werden, bei einem geschätzten Rückgang des Nikotinverbrauchs um 58 %.

Beispiel Fehlernährung: Untersucht wurde der Einfluss von Zucker und Fleisch/tierische Fette. Für Zucker wurden Folgekosten in Höhe von 4,5 Mrd. Euro ermittelt, für Fleisch bzw. tierische Fette insgesamt 6,5 Mrd. Euro. Entsprechende Gesundheitsabgaben würden im zehnten Jahr ein Aufkommen von 3 Mrd. Euro (Zucker) bzw. 3,7 Mrd. Euro (Fleisch) erbringen, bei einem Rückgang des Verbrauchs von 26 Prozent (Zucker) bzw. 4 Prozent (Fleisch).

Die insgesamt ermittelten zuordenbaren Folgekosten liegen der Studie nach bei ca. 80 Mrd. Euro. Die vorgeschlagenen Gesundheitsabgaben auf Tabakwaren, Alkohol, Zucker, Massentierhaltung, Benzin und Diesel würden nach zehn Jahren ein Aufkommen von etwa 55 Mrd. Euro ergeben. Im Gegenzug könnten die Krankenversicherungsbeiträge um mehr als 40 % von jetzt 14 % auf 8,5 % des Bruttolohns gesenkt werden.

Kurze Zwischenbemerkung zu den von UPI genannten Zahlen. Neue Berechnungen über die Höhe der gesundheitlichen Folgeschäden liegen zum großen Teil darüber. Bei den Folgen von Alkoholmissbrauch kommt eine Studie der FU Berlin auf volkswirtschaftliche Schäden von insgesamt 32 Mrd. Euro [18]. (UPI: 5 Mrd. Euro) Und bei den ernährungsbedingten Schäden werden von Verbraucherschutzministerin Künast inzwischen 71 Mrd. Euro pro Jahr genannt [8]. (UPI: 11 Mrd. Euro - Summe Zucker und Fleisch/tierische Fette). Das heißt – es wäre auch begründet, die Gesundheitsabgaben weit höher anzusetzen. Es geht aber nicht vordringlich um konkrete Zahlen (die immer angreifbar sind), sondern um die prinzipielle Richtung und damit einer Verbindung von Finanzierungs- und Lenkungsfunktion.

Der Lenkungseffekt von Gesundheitsabgaben auf die Kosten des Gesundheitssystems wäre ein doppelter. Zum einen würde endlich dort angesetzt werden, wo der Großteil der Folgeschäden entsteht. Zum anderen würde die Ersetzung von Sozialbeiträgen durch Gesundheitsabgaben die Arbeitskosten im Gesundheitswesen wesentlich senken (die ja den größten Anteil der Gesundheitskosten darstellen).

Für die Bürger hätte es den Charme, dass jeder mit seinem Verhalten über die Höhe der zu zahlenden Gesundheitsabgaben entscheiden kann. Es wäre das effektivste Bonus-Konzept.

Baustein 2: Energie statt Arbeit besteuern

Gerade im Gesundheitswesen ist der Widerspruch offensichtlich: sinnvolle Arbeitsplätze werden vor allem aus Kostengründen gestrichen oder durch teure Maschinen und computersteuerte Geräte ersetzt.

Abb. 2: Energiesklave

Abb. 3: Arbeiter

Energiekosten 200 Euro Lohnkosten 20.000 Euro
+ Energiesteuern 200 Euro + Steuern u. Sozialabgaben 20.000 Euro

Vergleich der Jahreskosten eines durchschnittlichen Arbeiters mit denen eines "Energiesklaven" (Energiesklave: fiktives Äquivalent für den durchschnittlichen Energiebedarf eines gesunden Schwerarbeiters = 1000 kWh/Jahr)

Millionen werden investiert, um den Anteil menschlicher Arbeit weiter zu reduzieren. Finanziert durch Gesundheitsbeiträge und Steuergelder, im Wesentlichen also durch die Arbeitnehmer selbst. Was aus Sicht der geltenden Wirtschaftstheorie auch notwendig ist. Schließlich können wir uns soviel teure Arbeit nicht länger leisten. Vergessen wird, dass dies nur deshalb sinnvoll ist, weil die Energie zum Antrieb dieser modernen Anlagen so viel billiger ist als die menschliche Arbeitskraft. Die Lösung dieses an sich absurden Vorganges ist in den vorhergehenden Beiträgen ausführlich beschrieben worden: Arbeit muss von den zusätzlichen Kosten entlastet, der Faktor Energie entsprechend höher belastet werden. Für die Gesundheitsreform hieße das, die Krankenkassenbeiträge schrittweise vollständig durch einen Mix aus Gesundheitsabgaben und Energiesteuern zu ersetzen. Bei den Energiekosten wäre auch die Wirtschaft wieder stärker mit im Boot, während bei den Gesundheitsabgaben die Belastung stärker bei den Verbrauchern liegen würde.

Baustein 3: Reduzierung der Mehrwertsteuer für ökologisch erzeugte Produkte

Bei der Bekämpfung ernährungsbedingter Krankheiten geht es jedoch nicht nur um zuviel fette oder süße Speisen. Es geht auch um Folgeschäden durch die zunehmende Industrialisierung der Lebensmittelherstellung. Fehlende lebenswichtige Substanzen werden durch Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel und eine unüberschaubare Menge von Zusatzstoffen ausgeglichen. Der von der Politik gewünschte "mündige Verbraucher" ist völlig überfordert, wenn er die Liste der Zusatzstoffe und nicht deklarierten Schadstoffe verstehen und beurteilen soll. Wissenschaftler warnen z.B. vor dem in Fertiggerichten verbreiteten Geschmacksverstärker Glutamat: "Ein Nervenzellgift". [8] Nicht zu vergessen sind auch die anonymen Schadstoffe aus der industriellen Landwirtschaft, wie Pestizide in Obst und Gemüse oder Antibiotika aus Massentierhaltung. Wobei letztere nicht nur über das Fleisch in den menschlichen Körper gelangen, sondern eventuell auch über das Ausbringen der Gülle auf die Getreidefelder. Zu den üblichen Ernährungsstörungen kommt die Zunahme von Allergien. Immer mehr Jugendliche weisen eine ärztlich diagnostizierte Allergie auf [9] .Ein Vorgehen wie in Punkt 1 wäre hier kaum sinnvoll. Es ist nicht möglich, die vielen chemischen Zusatzstoffe mit Abgaben zu belegen. Und ein Verbot würde den schwierigen Nachweis der Ursache-Wirkungs-Beziehung für jeden einzelnen Stoff voraus setzen. Wir brauchen einfachere Lösungen. Im Unterschied zur konventionellen Nahrungsherstellung ist für die ökologische Landwirtschaft ganz klar geregelt, welche Stoffe zugelassen sind. Damit gilt prinzipiell: Wer ökologische Produkte kauft, vermeidet in der Tendenz gesundheitliche Folgeschäden und -kosten für die gesamte Gesellschaft.

Eine deutliche Differenzierung des Mehrwertsteuersatzes zwischen konventionell und ökologisch erzeugten Lebensmitteln wäre im Prinzip die einfachste und effizienteste Lösung. Hier wird wahrscheinlich sofort der Einwand bezüglich bestehender EU-Regelungen kommen, die nur zwei unterschiedliche Mehrwertsteuersätze zulassen würden. Und die Lebensmittel genießen schon jetzt den ermäßigten Steuersatz. Natürlich wird es da Probleme geben. Aber hier wird nur deutlich, dass auf der EU-Ebene etwas nicht stimmt. Es kann nicht sein, dass bei den Unternehmenssteuern ein freier Wettbewerb herrscht, aber bei der Mehrwertsteuer sinnvolle Differenzierungen verboten sind. Ein ähnliches Problem scheint es ja auch bei der Mehrwertsteuer für Dienstleistungen zu geben, wo die Franzosen einen ermäßigten Steuersatz für das gastronomische Gewerbe beantragt hatten. (Siehe ...).Aus den gleichen Gründen sollten auch ökologisch zertifizierte Baustoffe, Möbel und andere Einrichtungsgegenstände (zum Beispiel Teppiche!) sowie Textilien bei der Mehrwertsteuer begünstigt werden.

Baustein 4: Medienkonsum besteuern

Die Frage der Ernährung ist aber nur die eine Seite des Problems. Das Gegenstück dazu ist die zunehmende Bewegungsarmut, verursacht vor allem durch ungezügelten Medienkonsum. Paul Nolte ("Generation Reform") beschreibt in seinem Essay "Das große Fressen" Fast Food und TV als Hauptproblem der Unterschicht: "Wenn wir in 20 oder 30 Jahren zurückblicken, werden wir erschrocken sein, wie zäh wir an der Politik der "fürsorglichen Vernachlässigung" festgehalten haben. Und welche Kosten wir damit den Benachteiligten, aber auch der Gesellschaft insgesamt aufgebürdet haben." [10]. Die Warnungen der Wissenschaftler vor den Folgen des Medienkonsums nehmen zu. [11] , [12], [16] Die Schäden gehen ja weit über die körperlichen Symptome hinaus. Die Schulen klagen über zunehmende Sprachstörungen schon bei Schulanfängern, die Wirtschaft über immer schlechtere Leistungen der Schulabgänger, auch die sozialen Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen verkümmern. Wir sehen hilflos zu, wie ein großer Teil der Kinder vor der Glotze "verblödet". Was nutzen die besten Bildungskonzepte, wenn die Jugendlichen täglich bis zu fünf Stunden (und mehr) vor dem Bildschirm sitzen. Fernsehen und Computerspiele haben ein hohes Suchtpotential. Die Eltern, nicht nur in sozial schwachen Familien, sind damit zunehmend überfordert. Der Staat muss wie bei anderen Suchtgefahren sowohl Fürsorgepflicht als auch Ordnungsfunktion wahrnehmen.

Abb. 4: Fast Food und Mediensucht: Aus der früheren Verdammung des Fernsehens ist eine Kultur des "Laissez-faire" geworden. TV und Fast Food sind zu öffentlich subventionierten Suchtmitteln geworden (siehe [10]).

Am sinnvollsten ist auch hier die Anwendung des Verursacherprinzips. Ein quantitativer Nachweis von Folgeschäden ist dabei weder möglich noch notwendig. Es ist eine politische Entscheidung, zu deren Begründung genügend Untersuchungen vorliegen dürften. Die Einnahmen aus der Besteuerung von Medienkonsum sollten gezielt und in voller Höhe für Kinderbetreuung, für den Ausbau von Ganztagsschulen, für kulturelle und sportliche Angebote, für Bildungsmaßnahmen etc. verwendet werden.

Nachdenken über wirkliche Reformen

Die Frage ist, ob wir die Diskussion weiter den Gesundheits-"Experten" überlassen wollen. Noch einmal Meinhard Miegel, etwas abgewandelt: Wir haben nicht begriffen, wie gefährlich schleichende Prozesse sind. Wenn wir gegen eine Wand krachen würden, gäbe es heftige Reaktionen. [13] Schleichende Veränderungen sind aber viel gefährlicher, weil wir in der Regel zu spät aufwachen. Um diese Diskussion führen zu können, müssen wir nicht unbedingt Experten sein. Manchmal genügt schon der gesunde Menschenverstand. Das heißt allerdings nicht, dass die notwendigen Schritte auch populär sein müssen. Die genannten Vorschläge dürften erheblichen Widerstand bei all denen auslösen, die sich im jetzigen System eingerichtet haben. Der Abschied vom alten System wäre vor allem ein Abschied von der Tatsache, dass Fehlverhalten subventioniert wird. Die positive Botschaft hieße aber: Verhaltensänderungen werden belohnt. Für jeden einzelnen wie für uns alle. Mit sinkenden Kosten, mehr Gesundheit, tendenziell mehr Arbeit, einem zukunftssicheren Gesundheitssystem. Dafür sollte wohl die Auseinandersetzung lohnen.

(Potsdam, Januar 2006)

Quellen:

[1] taz 25.11.05: "Die Bevölkerung muss ihr Verhalten ändern", sagt Meinhard Miegel

[2] taz 14.12.04: Wir duzen uns nicht!

[3]Tagesspiegel 17.6.05: Ex-CDU-Minister kritisieren Kopfpauschale

[4] NETZEITUNG.de 28.12.05: "Bürgerprämie" im Gesundheitswesen angeregt

[5] Tagesspiegel 6.1.06: Kinder über Steuern finanzieren

[6] Statistisches Bundesamt: Pressekonferenz 6.7.04: Krankheitskosten in Deutschland 2002

[7] UPI-Bericht Nr. 46: Kostenumschichtung im Gesundheitswesen durch Anwendung des Verursacherprinzips..., 4. Aufl., Heidelberg 2001

[8] SPIEGEL 25/2005: Frust statt Lust

[9] Informationsblatt "Präventionsprojekt Allergie und Berufswahl" des Landesgesundheitsamtes Brandenburg, AOK Brandenburg u.a.

[10] Paul Nolte in DIE ZEIT 52/2003: Das große Fressen

[11] SPIEGEL 15/2005: Nur Kluge werden klüger, Interview mit dem Medienpsychologen Peter Winterhoff-Spurk (Autor von "Kalte Herzen. Wie das Fernsehen unseren Charakter formt"

[12] Deutschlandradio Kultur 10.3.05 und 26.11.05, Radiofeuilleton, Interview mit dem Neurowissenschaftler Prof. Dr. Manfred Spitzer (Autor von "Vorsicht Bildschirm", Klett-Verlag 2005)

[13] SPIEGEL 35/05: Interview mit Meinhard Miegel

[14] Tagesspiegel v. 9.1.06: Gesunde Mischung?

[15] Tagesspiegel 10.1.06: Kein Aufschlag für Ältere bei Gesundheit

[16] http://www.iim.uni-giessen.de/home/news/sonstiges/Medienkonsum/Medienkonsum.htm

[17] SPIEGEL 20/2004: Alterskrank im Kindergarten

[18] FAZ 7.8.03: Alkoholsucht - die teure Volkskrankheit

[19] Deutsche Bank Research 4.1.06: Gesundheitsreform in den Niederlanden - ein Modell für Deutschland?

[20] Tagesspiegel 9.1.06: Gesunde Mischung?


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